PROLOG

Ein eisiger Wind peitschte durch die Mercer Street, rüttelte an Vordächern, wirbelte Papierfetzen auf und schnitt Gene Arnold rau ins Gesicht. Der schlug den Mantelkragen hoch und zog den Kopf ein, um sich vor den arktischen Temperaturen zu schützen. Der Anwalt aus Arizona war nicht zum ersten Mal in New York, aber zum ersten Mal im Winter, und er hatte nicht mit solch beißender Kälte gerechnet.

Arnold war ein unscheinbarer Mann, jemand, dem man eine Stunde lang gegenübersitzen konnte, ohne sich fünf Minuten später noch an ihn zu erinnern. Er war von durchschnittlichem Wuchs, eine Schildpattbrille ließ seine braunen Augen größer erscheinen, und auf seinem kleinen Kopf rahmte ein mattgrauer Haarkranz die fortschreitende Glatze. Arnolds Privatleben war kaum aufregender als seine Persönlichkeit. Er war nicht verheiratet, er las viel, und seine spannendste Freizeitbeschäftigung war Golf. Kein Ereignis in seinem Leben hatte auf dem Radarschirm der Welt auch nur den kleinsten Echoimpuls ausgelöst, bis auf eine Tragödie, die er vor sieben Jahren erlitten hatte.

Arnolds Arbeit als Anwalt war so öde wie sein übriges Leben und beschränkte sich im Wesentlichen auf geschäftliche Transaktionen. Er war in New York, um für Martin Alvarez, den König des Gebrauchtwagenmarkts in Arizona, der nach New Mexico expandieren wollte, Geldgeber aufzutreiben. Arnolds Treffen mit einem potenziellen Investor war schneller erfolgreich zu Ende gegangen als erwartet, sodass ihm noch Zeit blieb, durch Soho zu schlendern und nach einem Gemälde für seine kleine Kunstsammlung zu suchen.

Arnold lief die Nase, und ihm tränten die Augen, weshalb er sich verzweifelt nach einer Möglichkeit umsah, dem eisigen Wind zu entkommen. An der Ecke zur Spring Street war eine Galerie geöffnet, und so flüchtete er sich ins Innere.

Erleichtert atmete er auf, als ihm ein Schwall warme Luft entgegenschlug. Eine dünne junge Frau in Schwarz lehnte an einer Theke in der Nähe des Eingangs. Sie blickte von dem Katalog auf, in dem sie las.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und warf ihm ein routiniertes Lächeln zu.

»Ich schau mich nur um«, sagte Arnold unsicher.

Die Werke an den weißen Galeriewänden gehörten nicht einer einheitlichen Gattung oder Stilrichtung an. Arnold warf einen kurzen Blick auf eine Serie von Collagen mit einem feministischen Thema, bevor er stehen blieb, um einige Gemälde zu bewundern, die eher seinem Geschmack entsprachen. Zu Hause nannte er mehrere Bilder mit Szenen von der Westküste sein Eigen - braune und rote Mesa-Ansichten bei Sonnenuntergang, Cowboys beim Viehtreiben und Ähnliches mehr. Hier hingen Landschaftsgemälde von Neuengland, Seeschaften besser gesagt. Fischerboote inmitten stürmischer Wellen, Brecher an einem einsamen Strand, ein von der salzigen Gischt verwittertes Cottage. Sehr schön. Arnold schlenderte zu einer Gruppe Schwarzweißfotografien hinüber, die Paare betitelt war. Auf der ersten grob-körnigen Aufnahme waren zwei Teenager zu sehen, die in einem Park Händchen hielten. Sie waren von hinten

gezeigt, wie sie sich so aneinander schmiegten, dass sich ihre Köpfe fast berührten. Der Fotograf hatte den innigen Augenblick perfekt eingefangen. Das Bild machte Arnold traurig. Er hätte alles darum gegeben, mit diesem Jungen zu tauschen. Das Alleinsein war das Schwerste.

Auf dem nächsten Bild saß ein afroamerikanisches Paar in einem Cafe. Sie lachten, er hatte den Kopf zurückgeworfen und den Mund geöffnet, während sie schüchtern lächelte und sich offenbar darüber freute, so viel Vergnügen ausgelöst zu haben.

Arnold musterte das Foto. Es war nicht die Art von Kunst, die er normalerweise kaufte, doch das Bild hatte etwas, das ihn magisch anzog. Er las die Angaben auf dem kleinen, weißen Schild darunter und erfuhr, dass der Fotograf Claude Bernier hieß und der Preis sich im Rahmen seiner finanziellen Mittel hielt.

Arnold schlenderte zu der dritten Fotografie der Serie weiter.

Auf diesem Bild liefen ein Mann und eine Frau in Regenkleidung mit energischen Schritten über einen Platz in einem Stadtzentrum. Sie waren wütend, die Mienen angespannt. Die Augen der Frau blitzten, der Mund des Mannes war eine grimmige Linie.

»Oh, mein Gott«, sagte Arnold. Er kippte vornüber und musste sich gegen die Wand lehnen.

»Sir?« Von seiner aschfahlen Gesichtsfarbe und seiner gekrümmten Haltung alarmiert, blickte die junge Frau erschrocken zu ihm hinüber. Arnold starrte in Panik und leicht benommen zurück. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Er winkte wenig überzeugend ab. Die Frau eilte zu ihm und schob ihm eine Hand unter den Ellbogen.

»Kann ich mich irgendwo hinsetzen?«, fragte er mit schwacher Stimme.

Die Frau führte ihn zu einem Stuhl hinter der Theke im Eingangsbereich. Arnold sank darauf nieder und hielt sich die Hand an die Stirn.

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«, fragte sie besorgt.

Arnold war klar, dass sie versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Er stellte sich vor, wie sie vermutlich an einen Herzinfarkt dachte und sich fragte, was es wohl für ein Gefühl war, neben einer Leiche zu sitzen und auf die Polizei zu warten.

»Ein Glas Wasser wäre nett. Es geht mir besser, wirklich. Nichts Ernstes«, sagte er, um sie zu beruhigen. »Mir ist nur ein bisschen schwindelig.«

Bis die Frau mit dem Wasser zurückkam, hatte Arnold sich wieder gefasst. Er nahm zwei Schluck und atmete tief durch. Als er aufschaute, begegnete er dem ängstlichen Blick der Frau und sah, wie sie nervös die Hände rang.

»Es geht mir schon wieder gut.« Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Ich bin nur die Kälte nicht gewöhnt.«

»Bitte, bleiben Sie so lange hier sitzen, wie Sie wollen.« »Danke.« Er hielt inne, zeigte dann auf die Schwarzweißbilder. »Der Fotograf, Bernier, wohnt der hier in der Nähe?«

»Claude? Sicher. Er hat eine Wohnung in Chelsea.«

»Ich möchte eins von seinen Bildern kaufen.«

Arnold stand, schon ein wenig sicherer, auf und führte die Frau zu der Aufnahme mit dem wütenden Paar. Während er den Raum durchquerte, kamen ihm Zweifel, die jedoch schwanden, als er vor die Szene trat, die Bernier eingefangen hatte.

»Glauben Sie, er würde mich noch heute empfangen?«, fragte Arnold und holte, ohne den Blick von dem Bild zu wenden, eine Kreditkarte hervor.

Die Frau sah besorgt aus. »Trauen Sie sich das schon wieder zu?“

Arnold nickte. Sie schien ihn davon abbringen zu wollen. Doch dann trug sie die Fotografie nach vorne, um den Betrag einzutippen. Während sie auf das Einlesen der Kreditkarte wartete, telefonierte sie. Arnold setzte sich wieder. Sein erster Schock war verflogen und einem Gefühl der Entschlossenheit und Dringlichkeit gewichen.

»Wir schicken Ihnen das Bild. Claude steht Ihnen jederzeit zur Verfügung«, sagte die Frau, während sie Arnold seinen Beleg reichte, dazu einen Zettel mit Briefkopf der Galerie, auf dem sie Adresse und Telefonnummer des Fotografen notiert hatte. Arnold prägte sich die Anschrift ein und steckte das Blatt in die Jackeninnentasche.

»Vielen Dank. Sie waren sehr freundlich«, sagte er zu der Galerieverkäuferin, bevor er auf die Straße trat. Draußen empfing ihn ein eiskalter Wind, doch Gene Arnold war zu sehr in Gedanken, um es zu merken.